Mein Tango

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Es gibt ja keine Zufälle, und so war meine Begegnung mit dem Tango Argentino auch sicherlich vom Schicksal gewollt.
Es war im Jahr 1992. Ich hatte gerade meine neue Stelle als Pressesprecherin des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Bildung und Kultur angetreten, lebte wieder in Mainz und hatte das dringende Bedürfnis nach einem Ausgleichssport. Alles, was ich bis dahin probiert hatte – Tennis, Reiten, Joggen, Fitnesstraining – lockte mich nicht. Aber Tanzen – das sollte es sein.
Im „ersten Haus am Platz“, der Tanzschule Willius-Senzer, gab es Single-Kurse, und bald konnte ich – endlich wieder nach langer Tanzpause – rhythmisch über ein Parkett „schweben“ (na ja).  „Wer hat denn Lust, bei einer Tango-Formation mitzumachen“, fragte die „Chefin“ eines Tages. Mein Tanzpartner und ich waren dabei, lernten brav uns in Reihe oder Figuren einzufügen, und erfuhren, diese Choreographie basiere auf dem Tango Argentino.
Aha, nie gehört, aber okay. Wir acht Paare bekamen das nötige Outfit, traten mehrfach auf und fanden uns toll. Und so dachten wir uns auch nicht Böses, als wir eines Tages einer Einladung zum einem Workshop Tango Argentino folgten.
„Tanzt Euch mal ein“, meinte der Lehrer Delev Hoffmann. Und wir tanzten. „Und was ist das, was Ihr da tanzt?“ 🙁
Was wir für Tango Argentino hielten, war zwar nett anzusehen, aber keineswegs das, was die anderen da so zeigten. Und so beschränkten wir uns im Wesentlichen auf’s Zusehen, mit einem recht ambivalenten Ergebnis: ich hatte sofort und unwiderruflich Feuer gefangen, mein Tanzpartner eher nicht.
Manchmal muss man sich ganz schnell entscheiden. Ab dann war Tango Argentino „mein Tanz“ und sonst nichts mehr. Und das hat mein Leben in mehr als einer Hinsicht verändert.

2

Detlev war ein fabelhafter Lehrer. Er fand nicht nur einen passenden Tanzpartner für mich, sondern führte uns freundlich und geduldig in die Welt des Tango Argentino ein. Ihm und seiner Freundin, späterer Frau Belén beim Tanzen zuzusehen, war ein Hochgenuss.

Die Tanzgelegenheiten waren damals – also vor rund 20 Jahren im Rhein-Main-Gebiet – eher spärlich gesät, wann immer sich eine der raren Gelegenheit bot, musste die unbedingt und so intensiv wie möglich wahrgenommen werden. Bis zu 100 Kilometer fuhr man da schon mal, einfache Strecke. Und die Organisatoren waren echte Pioniere, wenn genügend Leute kamen, um wenigstens die Miete zu decken, konnten sie sich glücklich schätzen.

Ich habe mich damals allerdings noch nicht auf eine Milonga getraut, ich wollte erst richtig viel lernen und Sicherheit bekommen. Damals war mir noch nicht klar, dass Tango tanzen eine Lebensentscheidung ist, die unweigerlich reichlich Investitionen nach sich zieht: Schuhe natürlich, geeignete Kleidung, immer wieder Workshops, Privatstunden, CD’s, Literatur usw.  Und man kann immer noch etwas dazu lernen.

Als Detlev mit seiner Frau nach Madrid übersiedelte, „vererbte“ er seine Schülerinnen und Schüler an Amira Campora, die in den folgenden Jahren meine „maestra“ wurde. Mit ihr erlebte ich ganz andere Stunden, als ich sie bis dato kannte – ein bisschen chaotisch, aber immer lehrreich und lustig.

Es war in Berlin, meiner heutigen Heimat, wo ich mich zum ersten Mal allein in einen Tangosalon wagte: das Ballhaus Rixdorf. Diesen Abend werde ich nie vergessen. Im Eingangsbereich zögerte ich noch, das Ambiente im Hinterhof kam mir durchaus nicht Vertrauen erweckend vor. Aber dann sah ich einen Mann in Lackschuhen die Treppe  hinauf  gehen – ich war doch wohl am richtigen Ort. Ich folgte ihm zögernd. Die Tür war zu, wir waren zu früh gekommen – gut so! So kamen wir ins Plaudern, lernten uns ein bisschen kennen, und als wir dann endlich in den Saal durften, waren wir natürlich die einzigen und ersten. So hatte ich sofort einen Tänzer. Das ist in Berlin keineswegs selbstverständlich, hier scheinen die Herren nur die Damen  aufzufordern, die sie schon kennen, Fremde zu „betanzen“ scheint hier nicht üblich zu sein. Auf jeden Fall tanzten wir fast ohne Pause bis weit nach Mitternacht, und ich war selig: alles was ich bis dahin fast nur aus den Kursen und Workshops kannte und konnte funktionierte tatsächlich. Als ich mit der letzten U-Bahn zu meinem Schlafplatz bei Freunden entschwebte war klar: der Tango hatte mich endgültig erobert.

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Wann immer sich eine Gelegenheit bot, dienstliche Termine in Berlin mit einem privaten Wochenende zu verbinden, nutzte ich das. In dieser Zeit, also etwa 1994 bis 1996, war das relativ oft der Fall. Mit meinem „Ersttänzer“ lernte ich die Berliner Milongas kennen. Und die „Not“ der Damen, immer und überall in der Überzahl zu sein. Die Herren – umworbene „Hähne im Korb“, die Damen – vor allem im Wartemodus.  Damals war es noch nicht so verbreitet wie heute, dass die Damen beide Rollen tanzen können, die führende und die folgende.  Glücklich die Dame, die mehrere Tänzer kannte, sie hatte ihren Platz auf der Piste, die anderen durften zuschauen. So ging es mir leider auch allzu oft. Denn mein Tänzer verteilte seine Gunst gerecht an die anwesenden Damen – viel zu gerecht für meinen Geschmack.

Der Mangel an tanzenden Herren ist natürlich keine Berliner Besonderheit, auch im Rhein-Main-Gebiet war und ist das nicht anders. Um so intensiver erinnere ich mich an eine Tangonacht im Wiesbadener „Thalhaus“, bei der das Geschlechterverhältnis ausnahmsweise einmal umgekehrt war: es waren deutlich mehr Herren anwesend als Damen. Was für eine Nacht! Mit  wund getanzten Füßen aber glücklich war ich entschädigt für so  manche frühere Frustration. Als mir eine Tango-Bekannte erzählte, sie habe zwei Jahre lang auf ihren ersten Tanz gewartet, schwor ich mir: entweder ich finde in absehbarer Zeit einen verlässlichen „eigenen“ Tanzpartner oder ich lass‘ es sein.

Ich hatte keine Ahnung, wie nah die große Wende da schon war.

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Für das Jahr 2000 hatte die Deutsche Staatsphilharmonie Ludwigshafen eine Südamerika-Tournee geplant – Start in Rio de Janeiro, Ziel in Buenos Aires. Eine freundliche Fee sorgte dafür, dass ich als (inzwischen) zuständige Kulturabteilungsleiterin des Ministeriums als dienstliche Begleitung auserkoren wurde. Nun ergab es sich, dass die Staatsphilharmonie einen Arzt suchte, der sie bei der mehrwöchigen anstrengenden Reise betreuen würde, es ergab sich weiterhin, dass mein Berliner Tangopartner Arzt war und dass er mehr als bereit war, seine Praxis für einige Wochen zu schließen. Wir wollten schon länger mal in die Tangometropole reisen, und das war vielleicht die einzige Gelegenheit? Also planten wir: erst die Tournee, dann eine private Weiterreise nach Feuerland, Patagonien und die Halbinsel Valdez, und schließlich zwei Tangowochen in Buenos Aires.

Schon auf der Reise konnten wir uns tänzerisch einstimmen. Tatsächlich fanden wir auch in den brasilianischen Tourneestädten vereinzelt Milongas, und es wollten einige Musikerinnen und Musiker unbedingt die ersten Tangoschritte lernen. Nach einem grandiosen Abschlusskonzert im Teatro Colón verabschiedeten wir uns vom Orchester, brachen wir in den kalten Süden auf, erkundeten Ushuaia und das „Ende der Welt“, bestiegen den Gletscher Pepito Moreno, streichelten die Pinguine in Punta Tombo und freuten uns an den Seehunden und -elefanten auf der Peninsula Valdez.

Und dann endlich zurück in Buenos Aires. Eine ganz anderer Tag-Nacht-Rhythmus begann: tagsüber schlafen, nachts tanzen bis zum Umfallen. Ich liebte diese Stadt vom ersten Augenblick an, sie schien mir Tango zu atmen, zu essen, zu trinken – alle Sinne funktionierten im Takt des „dos por cuatro“. Heute weiß ich natürlich, dass das meine selektive Wahrnehmung war, aber Liebe macht ja bekanntlich blind, und das kann auch für Orte gelten. Dass da noch eine andere Liebe kommen würde, hatte ich allerdings nicht erwartet.

5

Es war an einem Sonntag im Dezember 2000, ein heißer Sommertag in Buenos Aires, und mein Freund D. und ich hatten uns aufgemacht, um in einer Nachmittagsmilonga das Tangoensemble  “Los cosos de al lao” zu hören. Amira, meine Tangolehrerin, hatte mir viel Gutes von diesen Musikern berichtet, und jetzt wollte ich sie natürlich unbedingt live erleben. Wir kamen zur angegebenen Adresse – und standen vor fest verschlossenen Toren. Nach einiger Zeit kam ein völlig verschlafener Mann herangeschlurft und ließ uns wissen, dass die Musiker von ihrer Europa-Tournee leider noch nicht zurückgekehrt seien. Tja …

Aber jetzt wollten wir Tango, egal in welcher Form, und fanden als Alternative einen völlig bizarren Ort – eine Art Nachbarschaftsheim in San Telmo, in dem ganze Großfamilien vom Kleinkind bis zur Oma versammelt waren, ihr Picknick verspeisten und – Tango tanzten. Irgendwann kam auch ein Orchester und hatte offenbar eine öffentliche Probe. Das alles war irgendwie ziemlich schräg.  Dazu passte, dass mich ein drahtiger “Porteño” zum Tanzen aufforderte, der mich in eine Unzahl von komplexen und komplizierten Bewegungen führte – und da er tatsächlich führte, klappte das auch. Ich war begeistert und konnte überhaupt nicht genug bekommen. Ich weiß nicht mehr, wie viele Tänze ich mit ihm machte, es waren viele, viele. Geredet haben wir nur das Nötigste.  Er fragte lediglich: “Ist das Dein Mann?” – “Nein, ein Freund” – “Nur ein Freund?” – “Ja, ein Freund und Tanzpartner” – “Ist er eifersüchtig?” – “Nein, warum sollte er?” – “Gut, wir tanzen weiter”.

Von diesem Tag an begegneten wir uns nahezu täglich in einer anderen Milonga, ohne dass wir irgend etwas verabredet hätten. Ich wußte nicht einmal seinen Namen. Aber wir bewegten uns jedes Mal zielsicher aufeinander zu und fanden uns auf der Piste wieder. Und jedes Mal machte mein Herz einen verdächtigen Hüpfer. Und wenn wir uns tatsächlich einmal einen Abend lang nicht trafen, war ich enttäuschter als mir das lieb sein konnte.

An einem Samstag nachmittag wollten D. und ich bei einer Tangoklasse berühmten Showtanz- und Lehrendenpaares Damian und Nancy in der “Casa del Tango” mitmachen. Wir kamen an und wer saß vor der Tür? Richtig – ER! Es war überhaupt keine Frage, dass wir den Unterricht gemeinsam machen würden, keiner von uns zögerte auch nur einen Moment lang. Irgendwann meinte D., er würde jetzt alleine weiterziehen, und ich gebe zu, dass ich damit sehr einverstanden war.

Nach dem Unterricht  wollte ich zum Park “Lezama”, wo eine  große Tangonacht mit  dem “Sexteto Mayor”, der gesamten Kompanie von “Tango Passion” und vielen berühmten Sängerinnen und Sängern angekündigt war. Und mein Porteño wollte mich begleiten. Ich war in absoluter Hochstimmung. Eine Vollmondnacht in Buenos Aires, ein solches Erlebnis in so einer Begleitung – wie hätte ich da gelassen bleiben können. Aber jetzt wollte ich doch wenigstens wissen, mit wem ich diesen Abend verbringen würde. “Yo soy Julián” – das Herzklopfen hatte endlich einen Namen.

6

Diese Nacht spüre ich bis heute – sie war so verzaubert, dass es sich schon fast kitschig anfühlte. Es müssen Tausende gewesen sein, die dort im Parque Lezama eine Supershow erlebten – alle die großen Künstlerinnen und Künstler waren da, und die schönsten Tangos hörte ich gleich zwei Mal: einmal von der Bühne und einmal aus dem Munde meines Begleiters.

Natürlich konnten wir nach einem solchen Erlebnis nicht auseinander gehen. Nein, wir wollten tanzen, tanzen, tanzen. In der Nähe kannte Julián einen italienischen Club, den “Salón Reduci”, es scheint ihn nicht mehr zu geben, gemäß der Liste der Milongas von Buenos Aires ist sie “suspendida”. Die Dame am Eingang war äußerst mißtrauisch, als sie mich sah. “Tiene zapatos?” (Hat sie Schuhe dabei?) Ja, ich hatte, aber ich trug sie nicht im Beutel mit mir sondern schon den ganzen Tag an den Füßen, was ihr wohl höchst merkwürdig vor kam. Heute verstehe ich das, und ich könnte auch nicht mehr stundenlang in Highheels unterwegs sein, aber damals war mir danach. Na gut, sie gab sich gnädig und ließ uns ein. Der Salon hatte eine gute Piste, tanzbare Musik, wenig Publikum, so dass wir praktisch eine Solovorstellung gaben. Es war der perfekte Abschluss eines perfekten Tages – und ich im Glücksrausch.

“Pass auf”,  meinte mein Freund D., als ich am frühen Morgen wieder in unserer Ferienwohnung eintraf, “das wird noch Deine große Liebe”. Ich wiegelte natürlich ab, aber im tiefen Inneren wusste ich, dass er recht behalten könnte.

Als unsere Abreise viel zu kurz darauf anstand, ließ es sich Julián nicht nehmen,  in seiner Mittagspause vorbei zu kommen und mich mit einer langen Ansprache (die ich nicht verstand) und einem langen Kuss (den ich sehr gut verstand) zu verabschieden.

Das war im Dezember 2000, und im April 2001 war ich schon wieder dort.

7

Es war nicht so ganz einfach, meine Vorgesetzten davon zu überzeugen, dass ich kurz nach einer Landtagswahl und während der vermutlich dann anstehenden Vorbereitungen für Koalitionsgespräche Urlaub machen wollte, nein: musste. Immerhin hatte ich als Leiterin der Kulturabteilung eine verantwortliche Position und die Verpflichtung, für die Kulturszene des Landes trotz schwieriger werdender finanzieller Rahmenbedingungen die bestmöglichen Konditionen zu sichern. Aber meine Kolleginnen und Kollegen und ich hatten alles so rechtzeitig vorbereitet, dass unsere „Vermerke“ standen. Ich erhielt die nötigen Häkchen auf meinem Urlaubsantrag. Und mein „Chef“ einen dankbaren „gran abrazo“.

Der Flug nach Buenos Aires war der reine Horror. Auf dem Weg zum Anschlussflug in Paris herrschten solche Turbulenzen, dass das Servicepersonal die Kontrolle über die Servierwagen verlor, die dann ungehindert durch den Gang rasten. Aber oh Wunder – ich, die ich sonst bei jedem kleinsten Wackler schon die Krise bekomme, war dieses Mal die Ruhe selbst. Es konnte nichts schief gehen, das wusste ich einfach. Und mein Herz war ja schon längst in Buenos Aires angekommen.

Mein Körper und der Rest landeten 20 Stunden später wohlbehalten in Ezeiza, und auch dieses Mal wurde die Ankunftshalle weiträumig mit Tangomusik beschallt. Es war ein Gefühl wie nach Hause zu kommen. Ich hatte wieder dieselbe zauberhafte kleine Wohnung in der Calle Viamonte gemietet, kannte das Viertel schon vom letzten Besuch, ging zielstrebig zur Bank und zum Einkaufen und begann mit den Vorbereitungen zum lang ersehnten Wiedersehen.

Wir wollten uns im „Viejo Correo“, Julián damaliger Lieblingsmilonga treffen. Natürlich erst spät am Abend, denn vor 22 Uhr geht kein Mensch zum Tango. Und endlich wurde es Nacht, endlich saß ich im Taxi, endlich kam ich an.

Da stand er und lächelte mir entgegen. Es war einerseits das Normalste der Welt, andererseits total aberwitzig. Musste mein Herzensbrecher ausgerechnet  am anderen Ende des Globus leben?

8

Von diesem Moment an lebte ich gleichzeitig in zwei Welten, meiner bisherigen deutschen – mit Beruf, Freuden und Familie, und parallel dazu auf einem anderen Stern – mit Julián, Tango und Buenos Aires.

Er zeigte mir seine Stadt von einer Seite, die ich als normale Touristin nie gesehen hätte, brachte mich mit Menschen zusammen, die ich nie kennen gelernt hätte, und tanzte mit mir, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Wir waren jeden Abend auf der Piste, wenn möglich auch in verschiedenen „clases“. Dass ich je freiwillig eine „tanda“ auslassen würde, weil die Füße nicht mehr wollten, hätte ich bis dato nicht vermutet, aber hier bekam ich nun eine echte Überdosis und genoss sie trotz aller Schmerzen. Natürlich musste Julián tagsüber arbeiten, und ich tat das auch: mit privaten Spanisch-Stunden und einem strengen Lernpensum, denn ich wollte ja nicht nur radebrechen oder weiterhin auf Englisch kommunizieren.

Drei Wochen nur hatte ich Zeit, und am Ende fing ich vor lauter Abschiedsschmerz wieder an zu rauchen (und dieses Julián-Tango-Laster habe ich erst zehn Jahre später wieder aufgegeben).

Zurück in Deutschland fühlte ich mich nicht mehr so recht bei mir, mein Herz war zu weit weg und zu offensichtlich an einen anderen Menschen gebunden. Aber dass es noch in meinem Körper klopfte merkte ich spätestens an einem späten Abend, als ich mit einem neuen Dienstwagen mit Handy-Freisprechanlage irgendwo in einem Waldgebiet unterwegs war. Das Handy klingelte, und ich wurde nervös, weil ich nicht gleich den richtigen Knopf fand, um das Gespräch anzunehmen. Aber als ich merkte, dass Julián in der Leitung war, machte das Herzchen einen Hüpfer und ich fuhr den Wagen fast in den Graben.

Was Julián mir zu berichten hatte, führte zu einer spontanen Einladung nach Deutschland, nach Mainz, zu mir.

Am 24. Juni 2001 begann ein neues Kapitel meines Lebens. Julián traf in Frankfurt ein – und da war er, mein Porteño, mein Milonguero, mein Señor de Tango. Und nach einer kurzen Erholungspause brachen wir auf nach Kaiserslautern, weil dort an diesem Sonntag die einzige Milonga geöffnet hatte, und für unser Wiedersehen brauchten wir natürlich unseren geliebten Tango.

9

Etwa im August 2001 wurde uns klar, dass wir uns nicht mehr trennen wollten. Aber mit einem Nicht-Europäer zusammenzuleben geht hier nur nach der Devise: hopp oder top – mit anderen Worten: nach Ablauf des Touristenvisums Tschüss oder Heiraten.  Eine Ehe hatte ich Zeit meines Lebens für mich ausgeschlossen, der Gedanke daran war also noch ziemlich gewöhnungsbedürftig.  Und als wir auf dem Standesamt erfuhren, welche „tramites“ – also Dienstwege – dafür erforderlich sein würden, kam uns das wie eine fast unlösbare Aufgabe vor.

Mein Teil dabei war einfach. Ich brauchte meine Geburtsurkunde und eine „Ehetauglichkeitsbescheinigung“. Nein, das ist keine ärztliche Untersuchung, sondern die Bestätigung, dass ich aktuell nicht verheiratet war.

Julián Part war schwieriger. Erst einmal mussten wir die Mailadresse des Einwohnermeldeamtes von Buenos Aires finden und von dort seine Ehetauglichkeitsbescheinigung erbitten. Okay, die Adresse hatten wir, aber „einen negativen Sachverhalt“ (also seine Ehelosigkeit) würden sie nicht bestätigen. Die Alternative: eine notariell beglaubigte und von einer vereidigten Dolmetscherin übersetzte Zeugenaussage von Freunden oder Bekannten. Unser Schutzengel sorge dafür, dass Juliáns Freunde und meine Tangolehrer Damian und Nancy in nächster Zeit  in Köln eine Show tanzen und Unterricht geben würden. So sammelten wir sie dort in einer Novembernacht ein,  waren am kommenden Morgen – alle vier völlig übernächtigt – beim Notar, wo sie die geforderte Erklärung abgaben.

Da wir bereits das Aufgebot bestellt hatten, ließen die Behörden Milde walten und verlängerten seine Aufenthaltserlaubnis (andernfalls hätte er bis zur Hochzeit nach Buenos Aires zurückkehren müssen).

Der 8. Februar 2002 wurde dann unser Hochzeitstag. Wir hatten einen Termin am (sehr!)  frühen Morgen bekommen. Gleichwohl hatten meine Freundin Cornelia und ihr Mann darauf bestanden, uns mit ihrem Rolls Royce zum Standesamt zu fahren. Und als wir ankamen erwarten uns um die 20 Freunde und Bekannte, mit denen wir keinesfalls gerechnet hatten – eine tolle Überraschung. Sogar für Sekt und Gläser hatten sie gesorgt.

Wer nicht in Mainz lebt, wird sich die folgende Szene kaum vorstellen können: der Trausaal mit Luftschlangen geschmückt, der Standesbeamte im Barockkostüm und einer Lockenperücke! Klar – es war Fastnachtszeit, aber Julián war höchst unsicher, ob eine solche Eheschließung denn gültig sein könne?


Auf jeden Fall war sie lustig. Natürlich war die Dolmetscherin wieder da, natürlich waren wir nervös, natürlich waren wir sicher, dass die Ringe nicht da sein würden – und für mich war das ganze ja Neuland. Aber das Werk gelang.


Und wir waren unromantisch genug, die Zeit bis zum offiziellen Hochzeitsmenu zu nutzen, um gleich um die Ecke beim Einwohnermeldeamt Juliáns  nunmehr offiziellen unbefristeten Aufenthaltsstatus in den Pass eintragen zulassen. Das war ein wichtiges „Hochzeitsgeschenk“.

Wie wir den Abend verbracht haben? Na wie wohl – bei einer Milonga, mit vielen schönen Tangos und ganz neuen Ringen an den Händen.